Die eigentliche Krise steht uns noch bevor
Primar von Maria Ebene warnt vor drastischen Folgen, wenn wirtschaftliches Comeback nicht gelingt – Schon jetzt kämpfen immer mehr Menschen mit psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie.
ALARMZEICHEN. Knapp nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat Philipp Kloimstein im Krankenhaus Maria Ebene das Ruder übernommen. „Die Krise hat uns als Team zusammengeschweißt“, sagt er. Aber sie fordert in der Bevölkerung immer mehr Opfer, deren Psyche Schäden davonträgt. „Diese Krise ist noch lange nicht vorbei“, betont Kloimstein.
AKtion: Im Dezember 2020 haben Sie in einem Interview davor gewarnt, die wahre Krise stünde uns erst bevor. Was kommt da noch auf uns zu?
Kloimstein: Ein Blick in die Vergangenheit ist hilfreich, auf die Finanzkrise 2008 oder die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Die erste Frage lautete: Wie können wir das wirtschaftlich stemmen? Dabei hat sich herausgestellt, dass jene Länder die Finanzkrisen ohne große psychische Belastungen gemeistert haben, die in der Staatsverschuldung nicht weit über ihre Grenzen gegangen waren. Länder also, die sich ihr Sozial- und Gesundheitssystem noch leisten konnten. Wenn es uns also gelingt, die Staatsverschuldung nicht ins Extreme zu steigern, könnten wir mit einem blauen Auge davonkommen. Immerhin haben wir in Vorarlberg bereits vier Prozent Einsparungen im Sozialsystem …
AKtion: Und was droht uns, wenn wir das nicht schaffen?
Kloimstein: Dann kann es zu eigentümlichen Phänomenen kommen wie etwa einer Trendumkehr im Drogenkonsum. In Griechenland konnten wir das im Gefolge der Finanzkrise sehen. Heroin boomt ja seit den 1990er-Jahren international nicht mehr so recht. Es ist eher eine „Loserdroge“. Kokain und Amphetamine sind die Drogen der Leistungsgesellschaft. In Griechenland verursachte die Finanzkrise Massenarbeitslosigkeit. Mehr als 40 Prozent der Jugendlichen fanden keinen Job. Siehe da: 2009 nahm der Heroinkonsum um 20 Prozent zu. Die Anzahl der Suizide stieg von 2010 bis 2011 um 40 Prozent. Die HIV-Infektionen nahmen im selben Zeitraum um 52 Prozent zu.
AKtion: Das sind entsetzliche Zahlen, vor allem, was die Jugendlichen anlangt.
Kloimstein: Wer sind denn im Moment psychisch die Leidtragenden? Da reden wir von den Kindern und Jugendlichen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie weiß ja schon nicht mehr, woher sie die Plätze nehmen soll.
AKtion: Warum setzt die Pandemie den Jungen so zu? Weil bereits die Eltern überfordert sind?
Kloimstein: Das griffe zu kurz. Schauen Sie, Kinder gehen jetzt plötzlich gerne in die Schule. Sie sind halt auch soziale Wesen, die plötzlich entwurzelt wurden. Sie gingen früher gerne Oma und Opa besuchen, jetzt hören sie, sie könnten die Großeltern damit umbringen. Kinder können nicht so einfach damit umgehen.
AKtion: Selbst die Suizidzahlen unter Kindern sollen gestiegen sein.
Kloimstein: Aus Österreich habe ich keine Zahlen, aber in der Schweiz berichten die Kliniken in Bern etwa über eine deutliche Zunahme an Suizidversuchen von Kindern.
AKtion: Was ist den Kindern das Allerwichtigste?
Kloimstein: Dass sie sich sozial entwickeln. Die Kinder leiden, weil ihnen die Gleichaltrigen fehlen. Das Sich-selber-Entwickeln und –Spüren ist einfach weggebrochen. Bei uns im Krankenhaus Maria Ebene sind die Jüngsten 15 Jahre alt.
AKtion: Unter den Erwachsenen leiden vor allem jene, die vergeblich nach Arbeit suchen. Wir haben mehr als 150.000 Langzeitarbeitslose. Was macht das mit Menschen, wenn ihnen so lange die Perspektive abhandenkommt?
Kloimstein: Sie verlieren schlichtweg den Sinn im Leben. Wir träumen ja immer davon, nicht mehr arbeiten zu müssen. Aber Arbeit gibt uns Struktur, Halt und eine gewisse Wichtigkeit. Den Arbeitslosen bricht das weg. Und je länger die Suche andauert, desto stärker verschwimmt der Horizont der Perspektiven.
AKtion: Die Forschung zeigt, dass allein schon die Sorge, arbeitslos zu werden, schwerere psychologische Folgen für die Menschen habe als die tatsächliche Arbeitslosigkeit …
Kloimstein: Da krieg ich immer ein bisschen Gänsehaut. Aber tatsächlich wiegt die Sorge um den Job viel schwerer als das, was dann eintritt, wenn ich den Job verloren habe. Die Gefahr nimmt man als viel belastender wahr.
AKtion: Die Corona-Pandemie hat Menschen arbeitslos gemacht, die im Leben nicht damit gerechnet hätten.
Kloimstein: Ja, sie hat uns allen gesagt: Keiner ist wirklich sicher. Und sie hat vielen Verluste beschert. Selbst Kurzarbeit heißt 20 Prozent weniger Einkommen. Ein Monatsgehalt fehlt also alle fünf Monate. Das ist viel.
AKtion: Viele von den Langzeitarbeitslosen werden es nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Wie kann deren Perspektive aussehen?
Kloimstein: Jedenfalls muss es reelle Arbeit sein. Ich kenne aus der Schweiz Übungssupermärkte, wo sie dann alles simulieren und leere Milchpäckchen spazieren tragen. Das ist entwürdigend. Der Mensch muss sich wertvoll fühlen. Da ist sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt.
AKtion: Was können Betroffene tun, um nicht in die Depression zu schlittern?
Kloimstein: Das Wichtigste ist: Kann ich mich selber so weit beobachten, dass ich es mitkriege, wenn es mir nicht gut geht? Ich könnte auch einmal andere beobachten und mir überlegen: Meinem Nachbarn geht es vielleicht nicht gut. Dann spreche ich ihn an. Wir reden heute viel zu wenig über unsere psychische Befindlichkeit.
AKtion: Vielleicht, weil wir’s nie gelernt haben?
Kloimstein: Ja, da ist was dran. Jeder in Österreich, der einen Führerschein macht, braucht einen Erstehilfekurs. Aber Leben ohne Erstehilfekurs für die Psyche scheint uns ganz normal zu sein. Das erinnert mich an die Medienwelt: Jeder hat ein Smartphone und kann damit selber Nachrichten machen. Aber wie viele haben das auch gelernt?
AKtion: Die Telefonseelsorge bilanziert wachsende Frequenzen. Vereinsamung, Arbeitsplatzverlust, Sinnkrise spielen große Rollen. Haben bei Ihnen die Zahlen zugenommen?
Kloimstein: Die Zahlen haben zugenommen. Im ambulanten Bereich verzeichnen wir 50 Prozent Zunahme.
AKtion: Die Covid19Krise dauert seit über einem Jahr an. Was war der markanteste Stressfaktor in dieser Zeit?
Kloimstein: Diese lang andauernde Zermürbungsphase. Das Nicht-wirklich-wissen-Können, wohin die Entwicklung geht. Das war auch von der Politik mitverursacht, die von einer Pressekonferenz auf die nächste verwiesen hat. Das erzeugt Stress und Anspannung. Wenn man wie ich im beruflichen Kontext die ganzen Verordnungen lesen muss, weiß man ja nicht mehr, was denn jetzt wirklich gilt. Immerhin hat mich eine Verordnung darüber belehrt, dass ich unter Wasser jetzt doch keine Maske tragen und Abstand halten muss. Das steht tatsächlich so drin. Orientierung ist ein zentrales Bedürfnis des Menschen, und die haben wir seit einem Jahr nicht mehr.
AKtion: Zwischen dem 15. und dem 26. Mai 2020 hat das GallupInstitut im Auftrag der Sigmund Freud Universität 1000 Menschen online interviewt. Jeder Fünfte beklagte psychische Belastungen, jeder Vierte hatte wirtschaftliche Probleme, fast jeden Zweiten (40 Prozent) plagten Zukunftsängste. Studienautor Michael Musalek ging mit der Regierung hart ins Gericht. Ängste schüren verstärke die Krise, sagt er.
Kloimstein: Genau so ist es. Ich muss mich schon fragen, ob ich den Menschen meine Ehrlichkeit nicht doch zutrauen könnte. Und ob ich es selber aushielte, wenn ich mich sagen hörte: Tut mir leid, das weiß ich jetzt nicht. Die Lieblingspolitikerin weltweit ist ja die neuseeländische Premierministerin. Die hat tatsächlich einen anderen Kommunikationsstil.
AKtion: Inwiefern hat die Isolation durch Corona Menschen mit Sozialphobien eigentlich auch gutgetan?
Kloimstein: Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zu Beginn der Pandemie gesehen: Jetzt geht es allen so, wie es mir schon seit Jahren geht, sie haben auch keine sozialen Kontakte. Das konnte durchaus als kurzfristig entlastend empfunden werden.
AKtion: So wie manche Menschen Homeoffice nicht mehr missen möchten?
Kloimstein: Das muss man ganz differenziert anschauen. Was bedeutet Homeoffice eigentlich? Ich erspare mir als Arbeitgeber Bürokosten und wälz das ab auf meine Angestellten? Oder ich vermeide Flüge und Dienstreisen und leiste so einen Beitrag für den Klimaschutz? Homeoffice ist, wenn ich alleine bin, super. Mit zwei Kindern und alleinerziehend ist es ein Alptraum.
AKtion: Mancher greift in der Pandemie vermehrt zu Alkohol oder anderen Drogen. Wann wird es wirklich kritisch?
Kloimstein: Kritisch wird es, wenn es nicht zum Genuss passiert, wenn der Alkoholkonsum nicht im Rahmen eines normalen gesellschaftlichen Austausches geschieht, sondern eine Funktion bekommt. Weil ich meine Sorgen loswerden will, wenn ich schlafen möchte, wenn ich runterfahren möchte. Kritisch ist es auch, wenn ich jeden Tag die Substanz brauche. Es gibt im Übrigen auch Verhaltenssüchte: Social Media, Kaufsucht, Pornosucht. Alles, wo ich die Kontrolle verliere.
AKtion: Werfen wir noch einen Blick in die Vergangenheit, auf die Marientalstudie. Damals wurden in den 1930erJahren in Folge der Weltwirtschaftskrise nahe Wien mehr als 3000 Frauen und Männer arbeitslos, weil eine Textilfabrik schließen musste. Die Leute fanden keine dauerhafte Beschäftigung mehr. Aber die befürchteten Revolten blieben aus, später liefen die Menschen den Nationalsozialisten in die Arme.
Kloimstein: Die Leute sind empfänglich für einfache Lösungen. Das haben wir schon bei Trump gesehen. Wenn die Not zunimmt und ich gewisse Sündenböcke generieren kann, funktioniert das seit jeher verlässlich. Da haben wir einen Nährboden, der uns zur Vorsicht mahnt.
Zur Person
Mit 1. April 2020 übernahm der gebürtige Linzer Dr. Philipp Kloimstein als neuer Primar der Stiftung Maria Ebene seinen Dienst. Damit ist er offiziell auch ärztlicher Leiter der Therapiestationen Carina und Lukasfeld, der Beratungsstellen Clean in Bregenz, Bludenz und Feldkirch sowie der Präventionseinrichtung SUPRO – Gesundheit und Prävention. Der 38-jährige Kloimstein studierte Medizin an der Universität Wien, absolvierte ein MBA-Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist ausgebildeter Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er hat darüber hinaus ein MBA-Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien absolviert und Violine am Konservatorium der Stadt Wien studiert.
Quelle:
Aktion
Die Vlgb. Monatszeitung für Arbeit und Konsumentenschutz
Feldkirch, im April 2021, Nr: 4