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Aufstufung in die 3. Phase

Die Aufstufung einer 34-jährigen Patientin

Zur Aufstufung in die 3. Phase bekommt jeder Patient sein eigenes Thema. Dieses Thema wird während des Therapieaufenthalts erarbeitet und schriftlich festgehalten. Das Resümee bzw. die Herausforderung dient als Leitfaden für die zukünftige Lebensgestaltung und Lebenserfüllung und wird in der Psychotherapie-Gruppe vorgetragen.

Das Aufstufungsthema einer 34-jähigen Patientin, die seit April 2017 in der Therapiestation Carina ist: 

Mich „klein weinen”

Das mag im ersten Moment belustigend klingen – für mich ist es jedoch sehr beschämend, denn bis heute kämpfe ich darum, meine Tränen zu stoppen und mich selbst nicht zu verlieren.

Dabei handelt es sich für mich um eine sehr alte Strategie, welche in Beziehung zu meinem Vater im Zusammenhang mit psychischem Druck, Überforderung, Angst entstand.

Die Hysterie, oder das Eintauchen in den Schmerz habe ich wohl von meiner Mutter übernommen. Sie war depressiv und doch fürsorglich. Sie wusste nicht, wie sie mit meiner (Seh-)Behinderung umgehen sollte und es schmerzte sie sehr. Ihren Erzählungen nach schrie ich, als sie mir mein „sehendes Auge“ zukleben musste und sie litt dann, weil sie mir das nicht antun wollte. Sie informierte sich, suchte nach Antworten und Lösungen – wahrscheinlich mehr als sie es/mich annahm, wie es ist. Die Frühförderungen waren mehr für sie als Hilfe, als für mich … in meiner Welt war Verwirrung, denn ich bekam ja mit, dass sie großen Schmerz mir gegenüber empfand.

Sehr oft – vor allem wenn ich von ihm als ICH „gesehen“ werden wollte, oder mein Vater meine Grenze überschritt und es mir eng wurde, und ich keinen Ausweg mehr wusste, fing ich an zu weinen, meist kullerten die Tränen still an mir herunter doch ich konnte sie nicht stoppen, was ihn immer aggressiver werden ließ. Und somit hatte meine unbewusste Strategie schon damals nicht den Effekt, den ich mir sehnlichst wünschte. Ein Gefühl des Angenommenseins und dass „ich“ oder „es“ gut ist wie es ist, jemand der mich beruhigt, wenn ich mich nicht ausgekannt habe, oder da ist, wenn ich Halt gebraucht hätte.

Später hatten die Schläge meines Vaters, die meinem Weinen in verstärkter Form folgten, für mich aber auch wie eine Art „Sinn“; denn dem ersten Erschrecken folgte eine Art der Genugtuung, ich fühlte mich wie erhaben.

Zuhause herrschte dann eine regelrechte Hysterie … meinem Weinen folgten Selbstverletzungen und ich floh in diese Welt, kreiste mit den Gedanken um Tod, kapselte mich ab in eine Welt der Gefühlskälte, Gleichgültigkeit etc. Früher hätte ich meine Ausbrüche wohl als Panik bezeichnet – heute weiß ich, es ist Hysterie – vielleicht als Antwort auf Ohnmacht. Eine Ohnmacht, die jeder von uns hatte…

Mich „klein fühlen“ und „klein denken“ stammt wohl aus meiner Schulzeit, dem Mobbing, den Be- und Abwertungen, auf welche ich auch heute noch sehr sensibel reagiere. Vor allem gegenüber starken Personen, die für mich etwas bedrohliches (nicht kognitiv, wenn ich erwachsen bin) mitbringen rutsche ich innerhalb Bruchteilen einer Sekunde in das „Kleinsein“.

Vor der Carina begegneten mir meine Strategien vor allem, wenn es um Überforderung und Erschöpfung ging, oder eben meine Ohnmacht (Verantwortungslosigkeit) der Sucht gegenüber. Dann war ich klein, arm und suchte Halt und Bestätigung bei meinem Exmann.
Meinen eigenen Wert suchte ich im Außen; vor allem in der Leistung bis hin zur vollständigen Erschöpfung, aber meine Erfolge gaben mir nichts. Ich versuchte meine Vergangenheit und meine Behinderung zu kompensieren.

Heute äußert sich mein „klein weinen“ auch auf verschiedenen Ebenen. Bei der einen geht es um meinen Wert und ums gesehen werden, bei der anderen handelt es sich mehr um Überforderung oder Ohnmacht, wenn meine innere Welt wackelt und dermaßen ins Wanken gerät, sodass ich mit Hysterie und eben diesem Weinen antworte … dabei verstärkt sich durch das Weinen meine Haltlosigkeit – ich gehe verloren, suche im Gegenüber Bestärkung, Beschwichtigung oder wünschte gar, meine Verantwortung abtreten zu können.

Das Eintauchen in den Schmerz hat auch etwas „beruhigendes“ für mich: eine Welt in der ich mich auskenne mit Selbstmitleid, Melancholie und Schwermut.

Es geht ganz schnell und ich verliere mich, als ob ich mir entgleite, die Tränen kommen, anscheinend auch ausgelöst durch eine verselbstständigte Gesichtsbewegung. Es herrscht plötzlich Chaos in mir und ich verliere meine Handlungsfähigkeit. Aber auch starke Gedanken, Abwertungen bohren sich in meinem Kopf und blitzschnell werde ich überflutet, kann nicht mehr klar denken, fühle mich hilflos und werde passiv, mache mich klein und wäre am liebsten unsichtbar, gefolgt von Scham und Selbstabwertung.

Mittlerweile spüre ich den Unterschied zwischen echter Trauer, echten Tränen und eben diesem hysterischem Weinen sehr gut. Früher wusste ich nicht mal warum ich weine. Vieles habe ich in den letzten Monaten gelernt, um mich innerlich immer wieder aufzustellen, bei mir zu bleiben, mir Mut zu machen, zu atmen, die Gedanken zu stoppen oder unterbrechen, mich nicht ergeben oder hingeben … und zu bleiben.

Ich spüre es wie Wellen. Manchmal muss ich wie eine Art abweinen (für mich im stillen), jammern oder mich kurz erschlagen fühlen, um dann wieder aufzustehen, mir Mut zu machen, neue Strategien oder Lösungen zu suchen und für mich einzustehen. Es gelingt mir schneller auszusteigen, bzw. mich schneller einzufangen – fast wie mit einem Lasso – wenn ich bildlich über mich denke. Auch bin ich mir selbst gegenüber nicht mehr immer so kritisch oder abwertend, wenn es mir passiert – außer ich schäme mich wie eben vor Hannes oder euch (Anm. gemeint sind der Leiter d. Therapiestation und die Mitpatient/innen in der therapeutischen Gemeinschaft).

Meine Verantwortung wahrnehmen – für mich einzustehen und vor allem gegenüber der Sucht mir selbst verbindlich sein – das ist auch mein Hauptthema momentan. Mich gegenüber meinem Exmann vertreten, in den Schritten der Selbstständigkeit in meiner Wohnung und was diese so mit sich bringt, als nächstes mein berufliches Umfeld und Handeln – erwachsen sein. Nicht so wie früher, stark sein, kämpfen, leisten, aushalten … anders.

Ich spüre auch gerade jetzt in der Übergangsphase, wie ich mich manchmal zurück ins Nest sehne, zurück in die Sicherheit, nach jemanden, dem ich die Verantwortung abgeben kann … gerade dann muss ich mir selbst das geben wonach ich mich sehne – anstatt zu flüchten und mich zu verlassen, begegne ich mir immer öfter mit Wertschätzung und einen wohlwollenden Blick.

Wenn ich so weinerlich, ja gar jämmerlich bin, dann reagieren meine Gegenüber gemischt. Viele antworten mit Aggression, manche mit Mitleid oder manche versuchen mich aufzuheitern oder zu trösten – doch eigentlich möchte ich kein Mitleid, das am Wenigsten – denn das würde ja bestätigen, dass ich klein und arm bin und das ist nicht echt. Eigentlich würde mir ein klares Gegenüber, ein Stopp oder eine echte Umarmung, ein gesehen werden am meisten gut tun – doch das bekomme ich, wenn ich bei mir bleibe und ich mich nicht klein weine.

Vieles von dem habe ich erst in den letzten Monaten gelernt und erkannt, wieder verloren und doch behalten. Durch das Thema aber entstand für mich ein wertvoller roter Faden. Verständnis für mich und vor allem dient es mir für die Zukunft wie eine Art Anleitung.

 

34 Jahre, Patientin in der Therapiestation Carina